Heute unternahm ich eine Zeitreise. Das ist nicht nur so daher gesagt, nein, diese Tagestour begann bereits in der ersten Sekunde, da ich mich in den großen Ford-PickUp meines Neffen setzte. Aus den Lautsprechern ließ er Deep Purple mit dem Album "Made In Japan" erklingen, das ich als junger Mann geliebt hatte aber seit 40 Jahren nicht mehr gehört habe - eine vergessene Liebe sozusagen. Wir fuhren zu meinem Bruder ins Krankenhaus.
Darüber möchte ich nicht ausführlich öffentlich schreiben, doch zusammenfassend lässt sich sagen, dass er definitiv einen Hirnschaden erlitten hat und sich seinerseits nun ebenfalls auf einer Zeitreise befindet, auf der das letzte viertel Jahrhundert, also die Zielgerade zurück ins Hier und Jetzt, gewissermaßen abgeschnitten wurde. Dadurch wird ihm das Ende der Reise verwehrt. Tragisch oder tröstlich, je nach Sichtweise, denn einerseits bekommt er von dieser Sache nicht viel mit, andererseits bemerkt er schon die Unstimmigkeiten in seinem Kopf. Er sagt auch, dass etwas nicht stimmt, benutzt selber die Begrifflichkeit eines möglichen Hirnschadens (notabene: eines möglichen, dass da tatsächlich im Hirn etwas nicht mehr passt, sieht er allerdings nicht), aber ich kenne ihn gut genug, um sagen zu können, dass dies seiner einfachen Lebensstrategie entspricht, die da lautet, den Ärzten oder Autoritäten widerspruchslos zuzustimmen, in der Hoffnung, so durch gespielte Einsicht ein schnelles Ende der Umstände zu erreichen. Die letzten Erinnerungen an seinen Sohn enden allerdings irgendwo vor 20 Jahren. Körperlich auf dem Weg der Genesung, verwehrt ihm die abgeschnittene Zeitlinie sowie die Unmöglichkeit, komplexe Zusammenhänge richtig zu verknüpfen, ein Dasein wie bisher zu führen - sprich: er wird wohl nie mehr alleine leben können.
Meine eigene heutige Zeitreise setzte sich dahingehend fort, nicht mehr meinen Bruder zu erblicken, sondern meinen Großvater in seiner Person zu sehen - also für mich war mein Bruder heute eher ein fremder Mann, der mich mehr an Opa im Pflegeheim erinnerte als eben an meinen Bruder. Es ist einfach nicht mein Bruder mehr. Ist schwer zu beschreiben: natürlich weiß ich, dass er es ist, der dort im Krankenhausbett lag, doch wer ist jemand, der sein Wesen verloren hat? Wann ist wer und wenn überhaupt, dann was?
Der Besuch in der eigenen Vergangenheit gipfelte dann im Wiedersehen eines Menschen, an dem mir immer viel gelegen war, den ich aber seit locker 30 Jahren nicht mehr gesehen hatte. Einen Augenblick lang konnte ich die Frau nicht mal erkennen und fragte mich, ob sie es war oder jemand anderes aus der Familie, die uns die Haustür öffnete. Erst als sie zu reden begann, wurden die Bilder aus der Erinnerung mit denen der Gegenwart schlagartig synchron. Ein paar Sekunden muss ich ziemlich dumm aus der Wäsche geschaut haben. Dann war aber jede Scheu verflogen und wir redeten, als lägen keine 30 Jahre Abstand zwischen uns, als wäre 1992 erst gestern geschehen.
Das hier versuche ich mit ziemlich neutralen Worten zu beschreiben, denn es ist alles nicht nur zu privat für ein öffentliches Tagebuch, sondern ich selber kann es emotional gar nicht richtig fassen. Mir ist klar, dass die Erlebnisse des heutigen Tages Auswirkungen in mir verursachen - wahrscheinlich wird dieses "Scheiß-Egal-Gefühl" in mir noch stärker werden, denn ich kann keinen Menschen mehr ernst nehmen, der anderen etwas vom Leben erzählt, der das Verhalten anderer Leute bestimmen oder es auch nur bewerten möchte. Ich pfeife auf jede Art von Bewertung. Was bisher meist den Pfaffen, Journalisten oder Politikern vorbehalten war, weitet sich aus auf jeden Menschen, der anderen etwas vorschreiben möchte. Das birgt natürlich die Gefahr, für andere als schwierig oder kauzig wahrgenommen zu werden (meine Nichte: "Georg, du bist anstrengend!") - insofern verstehe ich die lebenslange Strategie meines Bruders sogar, durch eine Maske des Normalen und mit einer gespielten Einsicht, größere Klippen zu umschiffen (allein er kann sie jetzt nicht mehr ausreichend clever verstecken), doch hinter der Maske, eben auch hinter meiner, lauert quasi eine emotionslose Egalität. Die Emotionen bleiben den wenigen Menschen vorbehalten, die mir etwas bedeuten, wie meinem Bruder, der Familie und der überraschenden Begegnung am Tage.
Nun denn, heute ein wenig besinnlicher als sonst. Und selbst das ist wahrscheinlich schlecht in Worten ausgedrückt, fordert es geradezu die Missverständnisse erst so richtig heraus, doch es ist so, dass mir 99,9 % aller Menschen schrecklich egal geworden sind und ich die Kasper von Polizei und Behörden über die Moralisten der medialen Öffentlichkeit bis hin zu ganz normalen Menschen, die einfach nur bescheuert sind, mit immer weniger innerer Aufregung oder Empörung mitleidslos aber herzhaft auslachen kann.